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Samstag, 2. Juli 2011

"Sie haben nicht die Augen, die Meisterwerke zu sehen!"

Am 3. Juli 1775 begehrt ein Höfling des französischen Königs Ludwig XVI. bei Voltaire in Ferney am Genfer See vorzusprechen. Derselbe wird auch bei der Proklamation Napoleons im Hauptquartier Alexandrien am 3. Juli 1798 zugegen sein: Vivant Denon, der erste Direktor des Louvre in Paris.


Voltaire. Vivant Denon war im Auftrag Ludwig XVI. in der Schweiz. Auf der Rückreise nach Frankreich ließ er es sich nicht entgehen, bei Voltaire in Ferney am Genfer See vorzusprechen. Voltaire will ihn nicht sehen, darauf schreibt er bestimmt am 3. Juli 1775: "Monsieur, ich verspüre ein unendliches Verlangen, Ihnen meine Aufwartung zu machen. Sie können krank sein, und das befürchte ich; mir scheint aber auch, es ist oft nötig, dass Sie es sein wollen, und das wäre mir in diesem Augenblick ganz und gar unlieb. Ich bin königlicher Kammerherr, und Sie wissen besser als irgendjemand sonst, dass man uns niemals den Zugang verweigert. Ich beanspruche daher das Vorrecht, dass mir die Tür geöffnet werde." Voltaire akzeptiert und Denon hält sich darauf eine ganze Woche in dessen Umkreis auf. Später fertigt er davon einen Stich, worüber sich Voltaire dann aber beklagt, weil er ihn wie einen verkrüppelten Affen gezeichnet habe.
Ägypten. Auch wenn dieser Druck Voltaire darstellend bis heute im Umlauf ist, so beginnt seine Berühmtheit auf den Tag genau dreiundzwanzig Jahre später, als Napoleon seine Proklamation am 3. Juli 1798 im Hauptquartier Alexandrien erlässt. Es ist der Ägyptenfeldzug Napoleons. Er reiste mit Napoleons Truppen durch Ägypten und schrieb eine umfassende und reich bebilderte Zusammenfassung seiner Reisen, welche in ganz Europa berühmt wurde.

Die Proklamation Napoleons hingegen ist Kriegspropaganda, und Napoleon führt zu diesem Zwecke auch bereits eine Felddruckerei mit: "Völker Ägyptens, man wird euch sagen, dass ich eure Religion abschaffen will, glaubt es nicht! Antwortet, dass ich komme, um euch euer Recht wieder zu verschaffen, die Usurpatoren zu bestrafen, und dass ich Gott, seinen Propheten und den Koran tiefer verehre als die Mameluken. Sagt ihnen, dass alle Menschen vor Gott gleich sind; Weisheit, Talente und Tugenden bedingen allein eine Verschiedenheit zwischen ihnen. Aber durch welche Weisheit, welche Talente, welche Tugenden zeichnen sich die Mameluken aus, dass sie ausschließlich alles das haben sollen, was das Leben lieblich und angenehm macht? Ist wo ein schönes Landgut, es gehört den Mameluken. Ist irgendwo eine schöne Sklavin, ein schönes Pferd, ein schönes Haus, alles dies gehört den Mameluken. Wenn sie Ägypten gepachtet haben, so mögen sie ihren Pachtvertrag zeigen, den Gott mit ihnen eingegangen ist. Aber Gott ist gegen das Volk gerecht und barmherzig."
Napoleons Versuche, Ägypten für Frankreich zu gewinnen, sind vielfältig und ermangeln keinesfalls einer gewissen Kreativität, auch wenn sie schlussendlich scheitern. So startet er mit dem "General-Diwan", der ersten repräsentativen Volksversammlung im Mittleren Osten, eine Art parlamentarischer Demokratie nach französischem Vorbild in Ägypten einzuführen. Der Versuch scheiterte schon damals am konservativen Widerstand der Scheichs, die den Status Quo erhalten sehen wollten. Eine allgemeine Landreform musste verschoben werden, und eine Annäherung an die religiösen Würdenträger durch Verhandlungen über die Konversion seiner französischen Streitkräfte zum Islam scheiterte. Doch mit dem Feldzug beginnt eine neue Ära der Ägyptologie.

Nicht die Militärs ließen also Bonapartes Feldzug in die Geschichte eingehen - sondern Forscher und Zeichner waren es. Mit der französischen Truppenmacht reiste ein ganzer Stab von Wissenschaftlern, Künstlern und Literaten, darunter führende Köpfe ihrer Zeit. In wenigen Monaten Präsenz, zwischen Marsch und Gefecht, sammelten, vermaßen und zeichneten sie, was es nur zu sammeln, zu messen und zu zeichnen gab: Tempel und Begräbnisstätten, Goldschmuck und - damals noch mysteriöse, in Stein geprägte Schrift. Wie sehr Napoleon die Wissenschafter schätzte, belegt der Befehl vor der Schlacht bei den Pyramiden: "Esel und Gelehrte in die Mitte!" Ihm schienen die Vertreter der Wissenschaft, nächst den wertvollen Lasttieren, nun mal schützenswertes Gut. Das Ergebnis der Gelehrten füllt viele großformatige Bände. Die Gelehrten beschrieben die dortigen Denkmäler und veröffentlichten die Ergebnisse (darunter den 1799 aufgefundenen "Stein von Rosette") in 36 monumentalen Text- und Tafelbänden (Description de l'Egypte, 1809 - 1828). Zusammen mit dem illustrierten Expeditionsbericht des Baron Dominique Vivant Denon (Le Voyage dans la Basse et la Haute Egypte pendant les campagnes du Général Bonaparte, ab 1802 in 40 Auflagen) löste diese Publikation eine Ägyptomanie aus.

Anstößig. Als Denon im Jahr 1802 mit dem Erscheinen seines mehrbändigen, reich illustrierten Reiseberichts aus Ägypten berühmt wird, ist er eigentlich schon bekannt. Bereits 1776 war seine erotische Erzählung "Point de lendemain" ohne Nennung des Verfassers erschienen: Mit dieser Episode einer éducation sexuelle im Ancien régime wollte er demonstrieren, dass "galante" Literatur gänzlich ohne "anstößige" Worte auskommen kann. Doch nicht nur diese Novelle - die Geschichte eines jungen Mannes, der von einer älteren, verheirateten Frau verführt wird - erregte damals Aufsehen. Auch Denons priapische Zeichnungen machten die Runde unter den Libertins.
Revolution. Geboren wird der Chevalier De Non im Januar 1747 in Burgund, bei Châlon-sur-Saône. Zu den Berühmten, mit denen Vivant Denon im Laufe eines langen, wendungsreichen Lebens Bekanntschaft schloss, gehörten Ludwig XV., Katharina die Große und Friedrich II., Voltaire, Diderot und Robespierre, der Maler David, der Minister Talleyrand und der General Bonaparte. Während des Kunststudiums in Paris erreicht er eine Beschäftigung am französischen Hofe. Er spricht Italienisch, Latein und Griechisch und wird in den diplomatischen Dienst gestellt. Die Revolution überrascht den Adeligen in Venedig. Seine Güter sind beschlagnahmt. Flugs ändert er seinen Namen, aus dem Adeligen De Non wird der Bürger Denon. Als er Ende 1793, auf dem Höhepunkt des Terreur nach Paris zurückkehrt, hat er Beschützer auf höchster Ebene: Jacques Louis David, Mitglied des Sicherheitsausschusses: "Ich versichere, dass ich den Bürger Denon in Italien gekannt habe, dass ich gesehen habe, wie er sich dort mit Erfolg in den Künsten übte, und dass er stets nur in neutralen Ländern gelebt habt. Wir arbeiten zur Zeit gemeinsam an dem Kupferstich meines Bildes Der Schwur im Ballhaus. Er hat die Arbeit des Gravierens übernommen. Er hätte es nicht getan, wenn er nicht ein guter Patriot wäre." Sein Name wird von der Schwarzen Liste gestrichen, er erhält seine Güter zurück.

Louvre. 1802 ernennt ihn Napoleon zum Generaldirektor der Museen, das sind der Louvre, das Musée des Monuments Françaises, das Musée Spécial de la Peinture Française in Versailles, das Hôtel des Medailles sowie die Gobelinwerkstatt Aubusson und die Porzellanmanufaktur Sèvres. Denon hat Maler, Graveure und Bildhauer unter sich. Vor allem aber ist er zuständig für den Erwerb und Transport von Kunstgegenständen für den Staat. Alsbald schon reist er den napoleonischen Armeen hinterher, bewaffnet mit Katalogen und Kunstverstand und requiriert Kunstwerke, die den Ruhm des späteren Louvre, der damals noch Musée Central und von 1803 an Musée Napoleon heißt, mehren sollen. Als Denon sein Amt antritt, ähnelt das Museum eher einem Asyl als einem Palast: Künstler hausen dort, kochen und arbeiten. An Latrinen herrscht akuter Mangel. Mit unermüdlichem Arbeitseifer, Geschmack und Sachverstand verwandelt Denon das Museum in eine professionelle Einrichtung.

Die Ausstellungssäle des neuen Musée Napoleon sind zunächst eingeteilt in den "Saal der Flüsse" für die Skulptur und den "Saal des Ufers" für die Malerei, erst später werden sie, Denons enzyklopädischem Anspruch getreu, nach Schulen und chronologisch geordnet. Aus Florenz hat man Michelangelo, Andrea del Sarto, Giorgione herangeschafft, hier hängt nun Raffaels Transfiguration Christi, Veroneses "Hochzeit zu Kanaa". Die große Galerie zählt bald 945 Bilder, darunter Werke aus Ulm, Jena, Berlin, Potsdam, Kassel, München, Wien. Manchmal tauscht oder kauft man Bilder, doch meistens rafft man einfach. Nicht alles geht an den Louvre; auch die anderen Museen wollen ausstaffiert sein, sehr zu Denons Leidwesen: Das Pariser Museum ist sein Augapfel. Als die alliierten Truppen nach Paris einrücken, beherbergt der Louvre unter anderem die Laokoon-Gruppe, den Apoll vom Belvedere, die Pferde von San Marco, die Venus Medici, die Sammlung Borghese. Außerdem zählt man 24 Poussins, sieben Da Vincis, neun Correggios, fünfzehn Veroneses, zehn Tintorettos, 25 Raffaels, 24 Tizians. Gerade erst hat Denon die so genannten italienischen Primitiven entdeckt: Cimabue, Fra Angelico, Giotto, Masaccio, Ghirlandaio. Diese damals noch wenig bekannten Künstler will er mit Bildern der deutschen und flämischen Schule des vierzehnten und fünfzehnten Jahrhunderts zusammenbringen: "Ein Punkt, an dem die Malerei aufbrach, um wahre Wunder zu vollbringen", in der Tat.

Als die Russen, Österreicher, Preußen und Engländer Paris besetzen, tauft Denon sein Museum kurzerhand um. Ludwig XVIII. lässt ihn im Amt, bis die Frage der Restitution geregelt ist. Als die alliierten Truppen ihre Kunstwerke aus dem Louvre abholen, entfährt Denon ein vielsagender Aufschrei: "Sie haben nicht die Augen, die Meisterwerke zu sehen!" Mit der Abwanderung der Kunstwerke zerbricht seine museale Vision, den Besuchern die abendländische Kunstgeschichte anhand von Meisterwerken zu vermitteln. Denon bittet um seine Entlassung; er ist achtundsechzig Jahre alt.

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