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Samstag, 21. April 2012

Nuditätenjagd - Lex Heinze

Die Zensur ist seit 1848 abgeschafft, doch mit der "Lex Heinze" vom 25.Juni 1900 wachen deutsche Zensurbehörden über Sittlichkeit und Moral in der Literatur. Opfer: Gerhart Hauptmanns "Die Weber", Arthur Schnitzlers "Der Reigen" und Frank Wedekinds "Frühlings Erwachen" und "Die Büchse der Pandora" ...


Nuditätenjagd. Die Zensur ist seit 1848 abgeschafft. Doch sie lebt in vielerlei Gestalt weiter: Am 23. März 1904 beschlagnahmt die Berliner Staatsanwaltschaft die erste Buchausgabe der Tragödie "Die Büchse der Pandora" von Franz Wedekind. Sieben Tage zuvor war die Druckfassung des Dramas "Reigen" vor Arthur Schnitzler verboten worden. Auch Max Slevogts Bild "Danae" hatte in der bayerischen Hauptstadt heftige Empörung ausgelöst. Als Max Slevogt sein Gemälde "Danae" aus der Jahresausstellung der Münchner Sezession auf Veranlassung der Jury und nach heftigen Protesten entfernen musste, hatte die "Nuditätenjagd" noch nicht ihren Höhepunkt erreicht. Er zog sogleich nach Berlin.
Als Folge der Zensur der "Lex Heinze" fand 1907 vor dem Berliner Landgericht gegen Karl Vanselow, den Herausgeber der Zeitschrift "Die Schönheit", ein Prozess wegen der Verbreitung "unzüchtiger Schriften" statt, in dessen Verlaufe Künstler und Literaten wie Hans Thoma, Professor Gurlitt, der Bildhauer Harro Magnussen, der Literaturhistoriker Prof. Adolf Bartels und der Kunstfotograf Nikola Perscheid als Sachverständige und Gutachter zur Verteidigung gehört wurden. Seit der Jahrhundertwende gehen die Zensurbehörden verstärkt gegen missliebige Autoren und kritische Inhalte vor. Als Grundlage dient der Unzuchtparagraph 184, nach einem Zuhälterprozess aus dem Jahr 1900 "Lex Heinze" genannt.
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Ohne Unzucht. "Lex Heinze heißt die auf Anregung des Kaisers aus Anlass der Berliner Gerichtsverhandlung gegen den Zuhälter Heinze und dessen der Prostitution ergebenen Ehefrau entstandene Anlassgesetzgebung vom 25. Juni 1900 zum deutschen Strafgesetzbuch, welche die Strafvorschriften über Sittlichkeitsverbrechen, insbesondere Kuppelei und Zuhältertum erweitert und ergänzt. In Berlin ist 1981 ein Ehepaar aus dem Rotlichtmilieu wegen Mordes angeklagt. Der Töpfer Gotthilf Heinze und seine Frau Anna, eine Prostituierte, sollen über mehrere Tage ein Mädchen festgehalten, sexuell missbraucht und schließlich getötet haben. Während des Prozesses stellt sich heraus, dass Heinze nicht regelmäßig in seinem Beruf arbeitet, sondern von den Einkünften seiner Frau lebt. Ein Tabu wird öffentlich: Das Geschäft der Prostitution blüht.

Entsetzt tut über das Treiben seiner arbeitsamen Untertanen ist vor allem der Kaiser. Er bringt eine Gesetzesinitiative auf den Weg und fordert, dass Zuhälter strafrechtlich belangt werden sollen. Der erste Entwurf vom 29. Februar 1892 kam im Reichstag nicht einmal zur ersten Lesung. Im Winter 1892/93 ging der Entwurf dem Reichstag in gleicher Gestalt wieder zu. Er wurde von einer Kommission eingehend beraten. Mit 15 gegen 6 Stimmen lehnte sie den Teil des Entwurfs ab, der die Prostitution kasernieren, also die Wiederzulassung öffentlicher Häuser ermöglichen sollte. Dagegen fügte sie außer andern Zusätzen und Verschärfungen den sogen.annten Arbeitgeberparagraphen ein, der die Arbeitgeber oder Dienstherren mit Strafe bedrohte, die unter Missbrauch des Arbeits- oder Dienstverhältnisses ihre Arbeiterinnen zur Duldung oder Verübung unsittlicher Handlungen bestimmen, ferner einen Paragraphen, der Ansteckung durch Geschlechtskrankheit mit Strafe bedroht. Indes kam der Entwurf über die Kommissionsberatung nicht hinaus. In den folgenden Sitzungsperioden brachte das  konservative Zentrum dann den Kommissionsentwurf als eignen Antrag ein.

Kein Arbeitnehmerschutz. In der Session 1899/1900 kam auch die Regierung wieder mit einem neuen Entwurf vor den Reichstag. Eine Kommission verband ihn mit dem Zentrumsantrag. Über die auf Kuppelei und Zuhältertum bezüglichen Bestimmungen herrschte Einverständnis. Die Regierung erklärte aber den Arbeitgeberparagraphen für unannehmbar, da er zu unbegründeten Strafanträgen seitens eines eifer- und rachsüchtigen Personals führen könnte, ebenso für unannehmbar, dass die Altersgrenze für die strafbare Verführung eines unbescholtenen Mädchens von 16 auf 18 Jahre hinaufgesetzt werde. Anderseits wurde der Antrag der Regierung abgelehnt, wonach die Vorschriften über Kuppelei und Zuhältertum keine Anwendung finden sollen auf die Vermietung von Wohnungen an Frauenspersonen, die gewerbsmäßig Unzucht treiben, sofern damit nicht eine Ausbeutung des unsittlichen Erwerbes der Mieterin verbunden ist.
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Während die Rotlichtwirtschaft in der konservativen Zentrumspartei (Vorläufer der CDU/CSU) ihre "wirtschaftsfreundlichen" Schützer hatte, hatte die Kunst, die mit ihren Anliegen weit entfernt von diesem Gewerbe war, eine solche nicht. Ende Februar 1900 erhob sich eine lebhafte öffentliche Bewegung gegen die so genannten Kunst- und den Theaterparagraphen, auf die sich Regierung und Reichstagskommission geeinigt hatten. Viele Künstler und Gelehrte riefen zur Mobilisierung gegen diese Verknüpfung von Zuhälterei, Kuppelei und Kunst im §184a auf. Nachdem das Gesetz im Februar 1900 verabschiedet wird, gründen Künstler und Intellektuelle den "Goethebund zur Wahrung der künstlerischen und wissenschaftlichen Freiheit". Zweck ist es, "Angriffen auf die freie Entwicklung des geistigen Lebens, insbesondere von Wissenschaft, Kunst und Literatur gemeinsam entgegenzutreten". Ehrenvorsitzender ist der Historiker Theodor Mommsen. Mit Unterstützung der Sozialdemokraten gelingt es dem Goethebund, das "Lex Heinze" zu ändern. Der Deutsche Reichstag nimmt im Mai 1900 eine Kompromissfassung an, die am 25. Juni desselben Jahres in Kraft tritt. Der "Theaterparagraph" wird ersatzlos gestrichen. Der "Kunst- und Schaufensterparagraph" wird auf einen Absatz beschränkt, der den Verkauf schamloser Schriften und Bilder an Personen unter 16 Jahren mit Strafen belegt. Neben der Gefängnisstrafe kann auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte sowie auf Zulässigkeit von Polizeiaufsicht erkannt werden.

Nichtunzüchtiges wird verboten. Der eine Paragraph verbietet, Schriften und Darstellungen, die, ohne unzüchtig zu sein, das Schamgefühl gröblich verletzen, zu geschäftlichen Zwecken in Ärgernis erregender Weise öffentlich (z. B. in Schaufenstern) auszustellen oder anzuschlagen. Der andere Paragraph wendet sich gegen öffentliche Aufführungen, die durch gröbliche Verletzung des Scham- und Sittlichkeitsgefühls Ärgernis zu erregen geeignet sind. Die Agitation, an deren Spitze sich der Goethe-Bund gestellt hatte, hatte Erfolg. Die aus Zentrum und Konservativen gebildete Reichstagsmajorität verzichtete auf beide Paragraphen. Als Rest blieb nur eine Bestimmung, die unter Strafe verbietet, Schriften, Abbildungen oder Darstellungen, die, ohne unzüchtig zu sein, das Schamgefühl gröblich verletzen, Personen unter 16 Jahren gegen Entgelt zu überlassen oder anzubieten (Strafgesetzbuch, § 184 a). In einem neuen Paragraphen, dem sogenannten Gerichtsberichtparagraphen (§ 184 b), wird bei Strafe verboten, aus Gerichtsverhandlungen, für die wegen Gefährdung der Sittlichkeit die Öffentlichkeit ausgeschlossen war, öffentliche Mitteilungen zu machen, die geeignet sind, Ärgernis zu erregen.

Beschlagnahmte Laubsägearbeiten. Zum Schmunzeln ist folgender Zeitungsbericht (Münchner Neueste Nachrichten 463 (4.10.1904), Zeitungsausschnitt gesammelt in StaatsA Mü: Pol.dir. München 1110.): "pr. Lex Heinze. In der Ackermannschen Buchhandlung in München erschien dieser Tage ein Schutzmann und verlangte, dass ein Buch "Liebhaberkünste" aus der Auslage entfernt werde. Offenbar hatte der Schutzmann Ovids "Ars Amandi" gelesen. Die Liebhaberkünste bei Ackermann waren jedoch ein Buch über - L a u b s ä g e a r b e i t e n. Auf dieses Vorkommnis bezieht sich eine Illustration in der neuesten Nummer der "Jugend".

Cabaret. Die "Lex Heinze" beflügelte aber offenbar auch: Das bedeutendste Kleinkunsttheater der Gründerjahre hat seinen Sitz in München. Es entsteht genaugenommen aus einer Straßendemonstration gegen die "Lex Heinze", einen Gesetzentwurf gegen freizügige Tendenzen in Kunst, Literatur und Wissenschaft, der dem deutschen Reichstag vorlag. In Phantasiekostümen, mit Transparenten und Kampfgesängen ziehen Münchner Künstler zu Fasching 1900 gegen die "Lex Heinze" durch die Straßen, unter ihnen "Die Verbrecher", eine Gruppe junger Künstler um Frank Wedekind, Ludwig Thoma, "Simplicissimus"-Zeichner und Schauspieler. Sie singen ein vielstrophiges "Aber nacket geh'n wir nicht", tragen es auch in die Kneipen und Lokale - und beschließen, ein Cabaret zu gründen. Am 13. April 1901 ist es soweit, "Elf Scharfrichter" betreten zum ersten Male die Bühne ihres Domizils in der Münchner Türkenstraße: drei bildende Künstler, zwei Schriftsteller, ein Theatermann, ein Gesangslehrer, ein Rechtsanwalt, ein aus Frankreich stammender Chansonnier und als zwölfte dessen Freundin, Mary Delvard.

Auch Schwule und "Frauenbewegung" mobilisieren sich. Schon am 13. Januar 1898 forderte der sozialdemokratische Parteivorsitzende August Bebel bei der ersten Lesung der "Lex Heinze" im Reichstag eine Überprüfung des §175 unter Hinweis auf die Schwulenkartei der Berliner Polizei mit tausenden von Namen "aus allen Gesellschaftskreisen". In diesem Zusammenhang wurde auch die "Petition an die gesetzgebenden Körperschaften des deutschen Reiches behufs Abänderung des § 175 des R.-St.-G.-B." des Wissenschaftlich-humanitären Komitees thematisiert, welche im Dezember 1897 den Mitgliedern des Reichstages und des Bundesrates zugeleitet worden war.
 Link ➨        Franziska Gräfin zu Reventlow: Erziehung und Sittlichkeit
Franziska Gräfin zu Reventlow schreibt dazu: "...Eben dieses Vertuschungssystem soll durch die Lex Heinze nun auch der Allgemeinheit im öffentlichen Leben – soweit es sich innerhalb des Gebietes von Kunst und Literatur bewegt – aufoktroyiert werden. Eines seiner Hauptmomente ist die Verpönung des Nackten in der Kunst. Wir aber sehen im Nackten überhaupt – sowohl im Leben wie in der Kunst – nicht nur keine "Sünde", sondern ein positives erzieherisches Moment von hoher Bedeutung. Denn wir wollen die heranwachsenden jungen Seelen nicht in dem lüsternen Schauder vor der Nacktheit erziehen, sondern zur gesunden Freude an allem Schönen, mag es nun Kunst oder Natur, nackt oder angezogen sein – zum gesunden Abscheu vor allem, was wirklich unschön ist..."

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