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Montag, 4. Juli 2011

Kriegsmusik

Die Urfassung "Toute la Lyre" von Pierre Schaeffer wird am 6.Juli 1951 im Pariser Theatre de l'Empire uraufgeführt. Die neue Fassung am 10. Oktober 1953 in Donaueschingen löst einen Tumult aus.  Das Publikum pfeift, brüllt und es ist nicht zu unterscheiden, was wütender Protest, fanatische Zustimmung und was das Stück selber ist.


Kriegsmusik. Walter Dirks, der angesehene linkskatholische Journalist, schreibt in seinen Frankfurter Heften dazu: "Am Schluss des "Orphée 53" waren eine griechische Hymne an Zeus, das Geheul der Furien und anderes, nicht Identifizierbares so ungeheuerlich und so maßlos ausgebeutet, dass der ganze Saal um Mitternacht ins Toben geriet, es war nicht mehr zu unterscheiden, was wütender Protest, was fanatische Zustimmung, was amüsierter Ulk, was Nervenentladung – und was das Stück selber war. Mit solcher Musik könnte einer eines Tages einen Krieg entfesseln. Oder doch ein Progrom. Ob er mit den gleichen Mitteln auch ein Herz trösten oder eine Wahrheit aussagen könnte, ist recht fraglich. Ich wage nicht zu sagen, ob die Möglichkeiten, die sich hier auftun, für die eigentliche Kunst irgendwie bedeutsam werden können. Für Demonstrationen, den Krieg, die Diktatur, bietet das Verfahren ganz gewiss geradezu ungeheuerliche Möglichkeiten."
Das Unverständnis für Pierre Schaeffers Werk ist breit. Walter Dirks, linkskatholisch engagiert, mit Adorno Herausgeber der "Frankfurter Beiträge zur Soziologie" hat noch die Musik des Krieges und der Diktatur, gegen die er eintrat, in den Ohren. Das war doch eine gänzlich andere. Er spottet weiter: "Das Wort Komposition, das sich auch in den Wörtern Kompott und Kompost wieder findet eignet sich trefflich für diese Art von Klangmontage." Und selbst Stockhausen kann damit nicht umgehen, wenn er 1953 formuliert: "Vergesse man aber nicht, dass selten eine Komponistengeneration so viele Chancen hatte und zu solch glücklichem Augenblick geboren wurde, wie die jetzige: Die Städte sind radiert – und man kann von Grund auf neu anfangen, ohne Rücksicht auf Ruinen und geschmacklose Überreste". Dass es dieses "neu Anfangen auf Ruinen" nicht gibt, dass nicht nur die Ruinen noch immer das Hören und Sehen diktieren, hatte er damals wohl in der Hitze der Gefechte hoffnungsvoll übersehen wollen.
Schaeffer kommt vom "Radio", ist Radiotheoretiker und so lässt sich sein Werk nicht ohne seine höchstpersönlichen Kriegserfahrungen erklären. Schon 1948 wurde die Idee einer Musique concrète von den beiden Musikern und Komponisten Pierre Schaeffer und Pierre Henry geboren und in der Radiosendung "Concert des bruits" erstmals öffentlich aufgeführt. Als Radiotheorie hat es Schaeffer auch längst formuliert: Zwingt das Radio den Werken, die es übertragen will, den Ereignissen, die es festhält, einen Stil auf, sei er nun hyperrealistisch oder irreal? Liefert es uns, wie man gemeinhin glaubt, eine genaue Reproduktion oder nur ein Bild, eine Vorstellung, bei der man sorgfältig zwischen Elementen unterscheidet, die genauso sind und solchen, die nicht mehr als ein Gleichwertiges darstellen? Gibt es so etwas wie eine radiophone Akustik, so wie man von einer Optik des Kinos oder auch des Theaters spricht?
 Link ➨        Pierre Schaeffer  
Die "Musique concrète" markiert den Anfang des modernen Soundsampling, den einer eigenständigen Radiokunst und des Sounddesigns. Mannigfaltige Anregungen sind von ihr ausgegangen. Pierre Schaeffer über seine Idee einer "Musique concrète": "Ich komme ins Studio, um Geräusche sprechen zu lassen. Sie beschwören nicht mehr das Dekor oder die Schicksalsknoten einer Handlung, sondern artikulieren sich durch sich selbst ... und selbst wenn Bruchstücke von Worten oder Sätzen darin enthalten sind, so haben sie doch fraglos eine Ablenkung erfahren, wo nicht ihres Sinnes, so doch ihres Gebrauches. Anstelle von Musik ist ex abrupto eine Art Klangpoesie entstanden.  
Pierre Schaeffer. (* 14. August 1910 in Nancy ; † 19. August 1995 in Aix-en-Provence) Er ist ein Pionier in der Musik des 20. Jahrhunderts. Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg begründete er – später mit Pierre Henry – den Club d‘Essai innerhalb des nationalen französischen Rundfunks. Damals, als der Rundfunk noch ein technisches und ästhetisches Experimentierfeld war, arbeitete Schaeffer an der Montage und Verfremdung vorliegender, realer, eben konkreter Klänge. Im Zentrum des musikalischen Schaffens von Schaeffer steht die berühmte Studie, die er zusammen mit Pierre Henry herstellte, die "Symphonie pour un homme seul". Eine Sinfonie schon, irgendwie, aber in einer Abgründigkeit und Andersartigkeit, wie sie das symphonische Orchester nicht bieten kann.

Die wesentlichen biografischen Daten liegen in den meisten Darstellungen über Schaeffer erst nach dem zweiten Weltkrieg, wohl beginnend mit einem Beginn der besonderen Art: Mit dem "Ersten Konzert mit Musique concrète", das am 18. März 1950 in der Pariser Ecole Normale de Musique stattfand. Es war das erste Konzert der Musikgeschichte, in dem keine Musiker sangen oder spielten. Alle Klänge waren zuvor im Studio aufgenommen, verarbeitet und montiert worden; bei der Aufführung mussten sie über Lautsprecher wiedergegeben werden - als "Unsichtbare Musik". Die technischen Möglichkeiten waren damals engstens begrenzt: In den ersten Jahren gab es nicht einmal Tonbandgeräte, so dass Collagen und Mischungen mit mehreren Schallplattenspielern realisiert werden mussten.
 Link ➨        Pierre Schaeffer - Études aux chemins de fer         
Aber seine Geschichte als Rundfunkpionier ist eine ältere: Der gelernte Rundfunkingenieur hat schon in den vierziger Jahren damit begonnen, seine technischen Erfahrungen produktiv zu nutzen, sie umzusetzen in innovative Medienpraxis. In politisch finsteren Zeiten - zur Zeit der deutschen Besetzung Frankreichs während des zweiten Weltkrieges - gründete er ein Versuchsstudio, das sich nicht nur als ästhetisches Experimentierfeld der Radioliteratur und des Hörspiels verstand, sondern auch als Forum der Resistance. Seine Radioarbeit im Untergrund zielte auf die Zukunft eines wieder freien französischen Rundfunks. In seinem Hörspiel "Die Planetenmuschel", das damals als Untergrundproduktion realisiert wurde, finden sich Spuren der traumatischen Kriegserlebnisse jener Zeit. Die in Beaune gemachten Aufnahmen wurden vorsorglich für die Zeit nach der Befreiung vorbereitet: Als Zeichen des Protestes und der Hoffnung auf bessere Zeiten entwickelte sich eine intensive Studioarbeit in der Erarbeitung von Rezitationen politisch engagierter Gedichte und von Hörspielen. Schriftsteller wie Eluard und Aragon sprachen offen aus, was auch Schaeffer selbst bewegte - und was in Schaeffers Hörspiel "La Coquille à Planètes", das damals produziert wurde, zumindest indirekt deutlich wird: Widerstand gegen Okkupation und Unterdrückung, Abscheu gegen die Schrecken des Krieges.
1944 ist das Jahr der französischen Befreiung. Die alliierte Invasion setzt der deutschen Okkupation ein Ende. Das Radio des befreiten Paris war das Werk Schaeffers. Mit der Gründung des Versuchsstudios in Beaune hatte er die Voraussetzungen dafür geschaffen. Schaeffers Studio d'Essai sendete am 22. August 1944 den ersten Radioaufruf zum Aufstand, und es informierte in Reportagen über die Barrikadenkämpfe in der Stadt. Die wichtigsten Tondokumente jener Tage stammen aus Schaeffers Studio. Schaeffer stellte, noch während der Straßenkämpfe, die Weichen für die Geburt des Radios der 4. Republik. Ihm verdanken wir die wichtigsten Tondokumente jener erregenden Tage. Erhalten geblieben ist uns beispielsweise ein Telefongespräch Schaeffers mit Paul Eluard, das sich mischt mit dem Massengesang der Marseillaise draußen auf den Straßen. 1944, in der Zeit des französischen Umschwungs, stieg Schaeffer für kurze Zeit sogar zum Generaldirektor des gesamten französischen Staatsrundfunks auf.
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Orphée 53. Dreiundfünfzig steht für das Aufführungsjahr und bezeichnet sich als "ein Stück für Geige, Cembalo und Magnetophon". Magnetophon, so lautete die Bezeichnung für eine neue Technik, die später und ausgereifter "Tonband" heißen wird. "Orphée cinquante-trois", "Orpheus "53", ergänzt die französischen Texte der Urfassung von "Toute la Lyre" durch deutsche Sprechtexte. So kommt es zu eigenartigen Dialogen in verschiedenen Sprachen. Für die mannigfaltigen Versuche, Sprache und Gesang mit konkreten Klängen zu kombinieren, entwickelte Schaeffer ein reges Interesse und suchte immer wieder nach neuen Lösungen. Pierre Schaffer, der diese "opéra concrète" zusammen mit Pierre Henry geschaffen hat, ist damals mit dem Versuch, neue Klangwelten mit den Aufführungskonventionen des Konzert- und Opernbetriebes zu versöhnen, auf heftigste Ablehnung gestoßen. Schaeffers Konzeption einer Lautsprecheroper mit live hinzutretenden Musikern und Darstellern hatte, wie er selbst später berichtet hat, damals Konflikte zwischen konventionellen und traditionellen Klangstrukturen, zwischen Hörbarem und Sichtbarem provoziert, mit denen nicht einmal sein Koautor einverstanden gewesen war. Dieser Versuch kam damals offensichtlich zu früh - in einer Zeit, als junge Komponisten nach einem radikalen, streng konstruktivistischen Neubeginn suchten und dabei alle aus der Tradition bekannten Bindungen in Frage stellten - nicht nur in der Musik selbst (in bekannten Konstellationen der Melodie, der Harmonie, des Rhythmus), sondern auch in Verbindungen der Musik mit Wort und Szene.

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