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Samstag, 17. März 2012

Dorfgeschichten: Berthold Auerbach

In der Nacht des 23. Juni 1833 um 5 Uhr morgens wird Berthold Auerbach in München vom Brigadier Staringer verhaftet und polizeilich verhört. Damit begann als "Vorbestrafter" das Ende der Karriere als Rabbiner, damit wurde aus der Not ein Schriftsteller und ein neues Genre geboren.


Liberal. Eigentlich wollte der Sohn einer armen jüdischen Kaufmannsfamilie im Umfeld katholischer Landbevölkerung schon früh Rabbiner werden. Die Universität München zwangsexmatrikuliert den Burschenschafter zwar, doch darf er "gnadenhalber" sein Studium in Heidelberg abschließen. Am 12. Dezember 1836 wird Auerbach zu zwei Monaten Festungshaft auf Hohenasperg verurteilt. Am 8. Januar 1837 tritt er seine Strafe auf der Festung Hohenasperg an und am 8. März 1837 wird er nach Stuttgart entlassen.
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Das Verhörprotokoll - dem wir dank amtlicher Genauigkeit das Wissen verdanken, dass er "gute" Zähne hatte, zeigt einen Studenten Moses Baruch Auerbacher, der geschickt alle konspirativen Verbindungen leugnete und alles, was er von den Liberalen und Verbindungen wissen wollte, nur aus der Zeitung erfahren haben will. In Berthold erwachte aber schon früh ein liberaler Geist, nicht nur in der Politik sondern auch in der Auslegung des Judentums. Vor allem bei Berthold ist zu bemerken, dass sein Sinn nach einer Integration des Judentums in die christliche deutsche Welt strebte, nach einem gemeinschaftlichen Zusammenleben in einem liberalen Nationalstaat. So war die Gründung des Nationalstaates im Jahr 1871 für ihn ein Ereignis von besonderer Bedeutung.
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Mit der Festungshaft, war ihm jedoch als "Vorbestrafter" der Weg ins Rabbinat verschlossen und er wendet sich notgedrungen der Schriftstellerei zu. Berthold Auerbach war Mitte des 19. Jahrhunderts der populärste deutsche Schriftsteller, gehörte zu den meistgelesenen Schriftstellern Deutschlands. Er war in ganz Europa berühmt. Richard Wagner und Jakob Grimm lobten ihn, Turgenjew verglich ihn gar mit Dickens. Mit Keller unterhielt er eine rege Freundschaft.
Link ➨         Auf der Höhe: Roman in acht Büchern Von Berthold Auerbach
Neues Genre: Dorfgeschichten. Mit seinen ersten beiden Romanen zu explizit jüdischen Themen ("Spinoza", 1837 und "Dichter und Kaufmann", 1840) scheitert er. Erst 1843, als er in seinen Dorfgeschichten aktuelle jüdische Fragestellungen – wie die der gesellschaftlichen Marginalisierung – in den nichtjüdischen Bereich transponiert, gelingt ihm der Durchbruch zum Erfolg. Seinen Ruhm hatte sich Auerbach durch mehrere Bände Schwarzwald-Geschichten besonders in den Kreisen, in denen der deutsche "Salonroman" seine Zugkraft verloren hatte, erschrieben: In ihnen ging es um das einfache Bauernleben, doch die naiv erscheinenden und doch künstlerisch durchgearbeiteten Geschichten unterscheiden sich wesentlich von den fast zur gleichen Zeit erschienenen Dorfgeschichten von Jeremias Gotthelf. Bei Auerbach erfahren die sozialen Verhältnisse des Bauernlebens eine Idealisierung und damit Überhöhung.

Der Erfolg ermutigte ihn, auf seinem Weg der Bildungsromane weiterzuschreiten, und in der Folge brachte er einige ähnliche Werke heraus. Die Gattung, die Auerbach "modern" gemacht hatte, fand zunächst sehr viele Nachfolger. Schon der große Erfolg verlockte zur Nacheiferung. In Melchior Meyr ("Erzählungen aus dem Ries"), Rank ("Aus dem Böhmerwald"), Otto Ludwig ("Heiteretei") schritt die Dorfgeschichte weiter, bis sie in Anzengrubers "Dorfgängen" einen neuen Aufschwung nahm und in Fritz Reuters "Stromtid" ihren Höhepunkt erreichte. Später ist sie, nachdem Autoren wie Hansjakob, Ganghofer, Rosegger und andere sie mit Vorliebe weitergepflegt hatten, unter der Stichmarke der "Heimatkunst" abermals in große Mode gekommen.

Antisemitismus. Auerbach wurde wegen seiner Dorfgeschichten von einfachen wie gebildeten Leuten gleichermaßen geliebt. Doch wusste er das Lob, das ihm entgegengebracht wurde, richtig einzuschätzen: "Ich weiß es, wenn ich hinaustrete unter die Bauern, die Seele voll, Wohlwollen auf den Lippen, das einzige Wort Jud! würde sie von mir verscheuchen." Berthold Auerbach erfuhr während der Wirtschaftskrise in der Gründerzeit zahlreiche Ehrungen. Doch schrieb er 1876: "Rätselhaft ist mir der neu erwachte Furor teutonicus gegen die Juden. Ich möchte die Grundzelle finden. Besteht sie vielleicht darin, dass das Selbstgefühl der Deutschen jetzt erwacht ist?" Am 22. November 1880 diskutierte das preußische Abgeordnetenhaus einen Antrag auf Rücknahme des Gleichstellungsgesetzes, das den Juden in Deutschland gleiche Rechte zusicherte. Auerbach saß auf der Besuchertribüne. Tags darauf schrieb er: "Vergebens gelebt und gearbeitet."

Dabei können Berthold Auerbachs historische Romane (1837 "Spinoza", 1840 "Dichter und Kaufmann") heute als Paradigmata des deutschjüdischen historischen Romans und seiner Funktion im Rahmen des jüdischen Prozesses der kulturellen Standortbestimmung in der säkularisierten bürgerlichen Gesellschaft gelten. Auerbachs theoretische und programmatische Äußerungen aus der Zeit zeigen, dass seine beiden historischen Romane einem doppelten Impuls entspringen: Da ist zum einen der Versuch, jüdische Autoren gegen die Polemik zu verteidigen, mit der die Feinde der Jungdeutschen Bewegung jedwede demokratischen Bestrebungen als "jüdisch", das Junge Deutschland als "eigentlich ein junges Palästina" zu diffamieren versuchten. Um dieser Kritik die Grundlage zu entziehen, grenzt sich Auerbach entschieden von Heine und Börne ab, die er der "Einsperrung des Judentums in den Verstandesghetto" bezichtigt.

Mit seinen historischen Werken trug Auerbach zur "Erfindung einer Tradition" bei, einer neuen, säkularisierten Tradition, welche der akkulturierte jüdische Bevölkerungsteil in Deutschland dazu brauchte, um seine jüdische Identität mit den Normen der bürgerlichen Gesellschaft vereinbar erscheinen zu lassen. Sein schriftstellerisches Wirken als Jude wandte sich gegen die vollkommene Assimilation bis zur Konversion auf der einen Seite und Verharren in der jüdischen Orthodoxie mit entsprechender Vermeidung jeder Kontaktaufnahme mit der Mehrheitsgesellschaft auf der anderen.

Moses Heß. Bei Berthold Auerbach ist zu bemerken, dass er nach einer Integration des Judentums in die christliche deutsche Welt strebte, nach einem gemeinschaftlichen Zusammenleben in einem liberalen Nationalstaat. So war die Gründung des Nationalstaates im Jahr 1871 für ihn ein Ereignis von besonderer Bedeutung, und selbst der sich über das Land ausbreitende Antisemitismus in den 70er Jahren änderte nichts an seinen Auffassungen. Was die Religionsauffassung anbelangt, so ist eine Betrachtung der Beziehung zwischen Heß und Berthold Auerbach von Interesse. War Moses Heß in seinen revolutionären 1840er Jahren eher gleichgültig gegenüber seinem jüdischen Glauben, so wandelte sich sein religiöses Weltbild nach der "Verschmähung" durch seine ehemaligen sozialistischen Weggefährten Karl Marx und Friedrich Engels. Er wandte sich den Naturwissenschaften zu und bat Berthold Auerbach, ihm bei der Publikation eines Buches zu helfen (1856). 1845 war es zwischen den beiden zum Streit gekommen. Auerbach konnte sich nie mit der radikalen Einstellung von Heß identifizieren. In dem angesprochenen Buch, "Rom und Jerusalem" , das 1862 erschien, propagierte Heß die "Wiedergeburt des jüdischen Volkes" mit der "Konzentration in seinem Heimatlande", Wiederherstellung eines jüdischen Staates. Moses Heß gilt damit als Vorläufer, wenn nicht überhaupt als Begründer der jüdischen Nationalbewegung. Freilich muss sie in einen historischen Kontext gestellt werden: Mit diesem Ergebnis analysierte er die Judenfrage als - nach der Einigung Italiens und der erhofften Deutschlands - "letzte Nationalitätenfrage". Dabei ging er von der Überlegung aus, dass die Juden eine Schicksalsgemeinschaft bildeten, aus der man sich nicht nach Belieben ausgliedern könne: Jeder Jude ist solidarisch mit seiner ganzen Nation, gleichgültig, ob er wolle oder nicht. Diese Erkenntnis bedeutete eine Absage an jede Möglichkeit der Emanzipation und Assimilation und besagte, dass eine Lösung des Judenproblems nicht individuell, sondern nur an der gesamten jüdischen Nation erfolgen könne. Nachdem Auerbach jedoch die Hälfte des Manuskriptes las, das ihm geschickt wurde, zog er erschüttert einen endgültigen Schluss-Strich unter seine Freundschaft mit Heß: Sich selbst einen "germanischen Juden" nennend, wies er Heß Anschauung des Judentums zurück und weigerte sich, ihm bei der Publikation seines Buches behilflich zu sein.

In Moses Heß, dem "Kommunistenrabbi", wie der Weggefährte von Karl Marx und Ferdinand Lasalle von seinen Gegnern genannt wurde, begegnet man zu ersten Mal einer Mischung von ethischem Sozialismus und aufgeklärtem Nationalismus, die in der künftigen Entwicklung des Zionismus eine große Rolle spielen sollte. Während die deutschen Handwerksgesellen die sozialistischen Lehren der Fourieristen und Saint-Simonisten nach Deutschland brachten, bemühten sich deutsche Denker, den Sozialismus aus der deutschen Philosophie — aus Hegel und Feuerbach — zu deduzieren und einen deutschen Sozialismus zu schaffen. Der bedeutendste unter ihnen — bis zum Auftreten von Marx — war Moses Heß, der Pionier des Sozialismus im Rheinland.

Es war Heß, der gegen Ende 1842 Friedrich Engels und seinem Kreise den Kommunismus als die notwendige Weiterentwicklung der junghegelschen Doktrin plausibel machte. Heß war um jene Zeit Mitarbeiter der von Marx geleiteten "Rheinischen Zeitung". Im Winter 1842/43 reiste Heß nach Paris, wo er mit den Mitgliedern des Bundes der Gerechten zusammentraf. Dann schrieb er für die verschiedenen deutschen sozialistischen Zeitschriften, wurde 1846 bis 1847 Anhänger von Marx und schrieb 1847 in der "Deutschen Brüsseler Zeitung". Heß' Aufsätze lesen sich geradezu wie eine Popularisierung mancher Kapitel des Marxschen Kommunistischen Manifestes, das jedoch erst einige Monate später geschrieben wurde; sie sind höchstwahrscheinlich das Produkt der Vorlesungen, die Marx im Herbst 1847 im Brüsseler Arbeiterverein gehalten hatte und der Diskussionen, die hieran geknüpft worden waren.

Wie so mancher andere Vorkämpfer der Revolution stammte Heß aus gutbürgerlichen Verhältnissen; sein Vater besaß eine Zuckerraffinerie und stand nach 1840 der Kölner Jüdischen Gemeinde vor. Friedrich Engels war von Moses Heß für den Sozialismus gewonnen worden, bevor dieser und Marx sich trafen. Als Mitarbeiter der in Köln erscheinenden "Rheinischen Zeitung" kooperierte Heß 1842 dann mit dem Kreis um Marx und Engels ein, die mit dem "Mosi" aber später brachen. Nicht übersehen werden darf dabei auch der latente Antisemitismus auch unter den Sozialisten, der Heß erst oder auch zum Zionisten machte.

Dennoch ging Heß' Wendung zum Zionismus in vielem auf seine Begegnung mit dem Sozialismus zurück: Das Streben nach proletarischer Selbstbestimmung hatte der jüdischen ein Vorbild geliefert; auch den Geist des Judentums definierte Heß als sozialdemokratisch und legte nur den zuvor vertretenen Atheismus ab. So billigte der späte Heß dem Religiösen immerhin instrumentalen Charakter zu, um die jüdische Nationalität zu erhalten und schrieb in "Rom und Jerusalem", jüdische Religion sei vor allem jüdischer Patriotismus. Den jüdischen Staat wollte Heß daher auf sozialistische Grundlagen wie Gemeineigentum am Boden oder Schutz der Arbeit vor kapitalistischer Spekulation gestellt sehen. Welche Sprache das neue Staatswesen annehmen solle, schien ihm hingegen eher gleichgültig. Dass sich Heß hier ein Idyll ausmalte, zeigt auch seine Schwärmerei vom jüdischen Familienleben. Er hatte bereits als junger Mann eine christliche Prostituierte geheiratet. Moses Heß darf sowohl für den Zionismus als auch für den Sozialismus, Sozialdemokratie und die Spielarten des "religiösen Sozialismus" als "Gründerapostel" in Anspruch genommen werden. Die Wirkungsgeschichte der Ideen von Heß ist paradox. Einerseits inspirierten sie Marx, durch den sie in die theoretische Begründung des Kommunismus (z.B. "Entfremdung") eingingen, andererseits lebte Heß' ethisch gefärbter, demokratischer Sozialismus in der sozialdemokratischen Bewegung Deutschlands fort.
Link ➨         Berthold-Auerbach-Museum im Schloss            
Berthold Auerbach. Eigentlich hieß er Moses Baruch Auerbacher und wurde am 28. Februar 1812 in Nordstetten bei Horb geboren. Nach Talmudschule und Gymnasium studiert er in Tübingen jüdische Theologie, um Rabbiner zu werden. 1833 geht er nach München, besucht Vorlesungen Schellings und wird als Burschenschaftler wegen staatsfeindlicher Umtriebe verhaftet. Unter Polizeiaufsicht kann er sein Studium in Heidelberg fortsetzen, doch wird er 1836 zu zweieinhalb Monaten Festungshaft auf dem Hohenasperg verurteilt. Das Rabbineramt ist ihm damit verwehrt, und er wird freier Schriftsteller. 1843 hat er mit seinen Schwarzwälder Dorfgeschichten großen Erfolg. In ihnen gibt er eine realistische Milieubeschreibung der bäuerlichen Lebenswelt. Am Beispiel seines Geburtsortes schildert er "ein ganzes Dorf vom ersten bis zum letzten Hause". Er beeinflusst damit u.a. Balzac, Turgenjew und Tolstoi, die ihn beide besuchen. Mit Erschütterung muss er gegen Ende seines Lebens den wachsenden Antisemitismus in Deutschland erleben. "Es ist eine schwere Aufgabe, ein Deutscher und ein deutscher Schriftsteller zu sein, und noch dazu ein Jude". Er stirbt am 8. Februar 1882 während eines Kuraufenthaltes in Cannes an einer Lungenentzündung.

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